Nutzt Tönnies die Not der Flüchtlinge aus?
Der Fleischkonzern Tönnies wirbt an der polnisch-ukrainischen Grenze unter den Geflüchteten Arbeitskräfte für seine Standorte in Deutschland an. Das stößt auf scharfe Kritik.
Robert Bongen und Sebastian Friedrich, NDR
Im polnischen Grenzort Przemyśl verteilt Deutschlands größter Schlachtbetrieb Tönnies Handzettel, mit denen Ukrainer, die vor dem Krieg geflüchtet sind, als Produktionshelfer angeworben werden sollen. Ein solcher Flyer, der vor Ort verteilt wird, liegt dem ARD-Politikmagazin Panorama vor.
Tönnies bestätigt auf Anfrage von Panorama die Anwerbeversuche. Drei Mitarbeiter seien an die polnisch-ukrainische Grenze geschickt worden, damit sie vor Ort den überwiegend weiblichen Kriegsflüchtlingen ein Arbeitsangebot machen können. „Wir bieten elf Euro die Stunde und liegen damit über dem gesetzlichen Mindestlohn“, erklärt Tönnies-Sprecher Fabian Reinkemeier. Außerdem werde den Geflüchteten der Transport nach Deutschland und eine Unterkunft angeboten. Die Kosten für die Unterkunft werden vom Gehalt eingezogen, wie dem Handzettel zu entnehmen ist.
Patrick Walkowiak von der Flüchtlingshilfsorganisation Friends of Medyka hat die Anwerbeversuche im Aufnahmelager in Przemyśl erlebt und mit den Tönnies-Mitarbeitern gesprochen. Diese hätten ihm zu verstehen gegeben, keine kleinen Kinder oder Ältere mitnehmen zu wollen, sondern nur Menschen, die bei Tönnies auch arbeiten können. Walkowiak ist auch das Schreiben mit dem Arbeitsangebot des Unternehmens ausgehändigt worden.
Walkowiak beschreibt die Situation am polnischen Grenzort als chaotisch. Es kämen ständig neue Geflüchtete an, von denen die meisten nach Deutschland wollten. Diese müssten im Aufnahmelager tagelang warten. „Es fehlt an Bussen und anderen Transportmöglichkeiten“, so Walkowiak. Die Geflüchteten befänden sich in einer absoluten Notlage und könnten in dieser Extremsituation die Anwerbeversuche gar nicht einordnen, so der Flüchtlingshelfer.
Anwerbe-Flyer von Tönnies für ukrainische Flüchtlinge an der polnisch-ukrainischen Grenze. Bild: Patrick Walkowiak
Tönnies: Helfen Flüchtlingen vor OrtTönnies‘ fragwürdigen Anwerbeversuche seien geschmacklos, findet Inge Bultschneider von der Interessengemeinschaft „WerkFAIRträge“. Die Initiative setzt sich seit Jahren für die Verbesserung der Arbeits- und Wohnverhältnisse von Migranten in der Fleischindustrie ein. Bis Kriegsbeginn habe sich Tönnies als Putin-Freund bekannt. „Sich am Elend zu bereichern und es als gute Tat zu verkaufen, ist in der Fleischbranche nichts Neues. 2015 bei der Flüchtlingswelle haben wir Ähnliches erlebt“, so Bultschneider.
Tönnies kann die Kritik nicht nachvollziehen. „Wir helfen den Kriegsflüchtlingen vor Ort und bieten ihnen eine Zukunftsperspektive“, so Unternehmens-Sprecher Fabian Reinkemeier. „Wir bereichern uns nicht an der Not der Flüchtlinge. Das ist eine völlig irre Aussage. Wir tarnen auch nichts als gute Tat.“